Leseprobe

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Auszug aus:


Lila 2 - Das Duell

Aus Kapitel 11

........Der Tag zog sich in die Länge und wollte einfach kein Ende nehmen. Lila und Anna fieberten dem Abend entgegen, immer auf der Hut, damit Annas Großeltern keinen Verdacht schöpften. Mehrmals war Lila der Entdeckung nur denkbar knapp entgangen, doch dann kam endlich der Augenblick, den sie so sehnlichst herbeigewünscht hatten: Annas Oma kam noch einmal in das Kinderzimmer, sprach das Abendgebet mit Anna, gab ihr einen Gutenachtkuß und ging zurück in das Wohnzimmer.
"Jetzt müssen wir noch ungefähr eine Stunde warten", kommentierte Anna, "Omi und Opi sehen meist noch ein bißchen fern und gehen dann auch ins Bett."
Nach etwa einer Stunde, hörten sie denn auch Geräusche, die darauf schließen ließen, daß auch die Großeltern zu Bett gingen. Kurz darauf war alles still im Haus. Sicherheitshalber warteten sie noch eine Weile, dann schlüpfte Anna aus dem Bett und zog sich geschwind an. Anschließend holte sie die Taschenlampen und etwas zu essen unter dem Bett hervor, was sie im Laufe des Tages dort deponiert hatte.
"Psst, leise!" mahnte Lila.
"Ach, so leise müssen wir gar nicht sein", meinte Anna, "die wachen von so ein paar Geräuschen nicht auf !"
Trotzdem gab sie sich Mühe, die Türen zu öffnen, ohne ein verräterisches Knarren ertönen zu lassen. Das einzige etwas größere Problem war die Haustür, die von außen keinen Griff, sondern nur einen Knauf besaß und mit etwas Schwung zugezogen werden mußte, damit sie schloß. Sie meinten schon, der Krach müsse die halbe Nachbarschaft geweckt haben und lauschten ängstlich, doch es war weder hier draußen, noch drinnen im Haus etwas zu hören.
Erleichtert machten sie sich auf den Weg, immer darauf bedacht, das Licht der Straßenlaternen zu meiden. Kurz darauf hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen und erreichten den Schlagbaum, der verhindern sollte, daß die Leute mit ihren Autos die Waldwege befuhren. Anna schlüpfte darunter hindurch und hastete eilig durch das weiche Gras des Weges den Berg hinauf. Lila flog dicht neben ihr her, um sie in der Finsternis nicht aus den Augen zu verlieren, denn dank des Neumondes war die Nacht, obwohl wolkenlos, sehr dunkel. Auch das schwache Licht der Sterne half kaum weiter, da die Bäume ihre Kronen, einem Tunnel gleich, über dem Weg zusammenschoben.
"Mir ist unheimlich!" gestand Anna mit zitternder Stimme, "immer denke ich, da käme irgendein Schatten auf mich zu."
Sie leuchtete mit der Taschenlampe voraus, aber bis auf die hohen, dunklen Bäume war nichts zu sehen. Als sie die Lampe wieder ausmachte, weil sie diese ja noch in der Höhle dringender brauchen würden, kamen sie sich einen Augenblick lang nahezu blind vor; deshalb verzichteten sie in der Folge auch so gut es ging auf den Einsatz des Lichtes und suchten sich den Weg weiter in der Dunkelheit.
Kurz bevor sie die Kuppe erreichten, wurde es etwas leichter, da die Wipfel der Bäume den Weg hier nicht mehr überragten und sich so das Sternenlicht einen Weg bis zum Boden bahnen konnte. Nun endete der Weg auf einer Lichtung, in deren Mitte sich dunkel und drohend der alte Turm erhob. Das einzige, was die Szene etwas weniger unheimlich erscheinen ließ, waren einige Glühwürmchen, die, durch die lauwarme Luft hervorgelockt, durch die Büsche am Rand der freien Fläche schwirrten.
"Da ist der Stein, den Tante Lisbeth erwähnt hat", stellte Anna fest, "hier irgendwo muß der Pfad zur Höhle beginnen."
Sie ließ den Strahl ihrer Lampe über das Gesträuch gleiten.
"Halt, ich glaube, da war er", rief Lila, "leuchte noch mal 'n Stück zurück! Ja, guck hier, das muß er sein!"
Anna ließ die Lampe nun brennen, da sie ansonsten dem Pfad in dem Gestrüpp nicht folgen konnten. Er war sehr schmal, fast vollständig zugewuchert und führte in engen Kehren steil den Hang hinab. Lila, die dicht hinter Anna herflog, spürte plötzlich einen harten Schlag in ihr Gesicht und fand sich unversehens am Boden wieder.
"Au, meine Nase", jammerte sie, "paß doch mal auf!"
"Was ist denn? Ich hab doch gar nichts gemacht!"
"Doch, du hast einen Ast nach hinten flitschen lassen, den hab ich voll ins Gesicht gekriegt!"
"Tschuldigung, das wollte ich nicht", bedauerte Anna, "ich paß' jetzt besser auf! Tut es doll weh?"
Sie leuchtete Lila in das Gesicht.
"He, du blendest mich! Ich glaub, ich hab Nasenbluten."
Zum Glück war es halb so schlimm, und sie konnten alsbald den Weg fortsetzen.
Wenig später tauchte der Quellteich im Schein der Taschenlampe auf. Der Pfad lief daran vorbei und verschwand im Dunkel der Nacht.
"Leuchte mal rüber", bat Lila, "ich flieg hin und guck nach, ob da wirklich eine Höhle ist, bevor du in den Teich gehst und dich naß machst."
Die gegenüberliegende Seite der Quelle wurde von senkrecht abfallenden Felsen gebildet, die von Ranken und Moos überwuchert waren. Wasser troff in Rinnsalen durch die grünen Polster und plätscherte in den Tümpel.
Lila landete auf einer vorspringenden Felsnase und zerrte ein paar Ranken zur Seite; ein kalter Lufthauch streifte ihr Gesicht, und der Strahl der Lampe verlor sich zwischen den Pflanzen in tiefer Schwärze.
"Du kannst rüberkommen, Anna", rief Lila, "aber sei vorsichtig, ich weiß nicht, wie tief das Wasser ist!"
Anna zog ihre Schuhe und Strümpfe aus, stopfte sie unter den Pullover, krempelte die Hose hoch und trat in den kalten Quell. Sie ließ das Licht vor sich über das Wasser wandern; es war kristallklar, und der kiesige Grund wirkte alles andere als tief.
Anna beeilte sich, um schnell wieder auf dem Trockenen zu sein, doch mußte sie feststellen, daß der optische Eindruck sie getrogen hatte: Schon nach den ersten Schritten reichte ihr das Wasser bis zum Bauch, und es schien sogar noch tiefer zu werden! Sie blickte sich nach einer Alternative um, doch offenbar war der Teich bis zum Ufer ähnlich tief, und dies wiederum war so dicht mit Dornensträuchern bestanden, daß ein Durchkommen unmöglich war.
Es blieb ihr keine Wahl, sie hob die Lampe über den Kopf, damit sie nicht naß würde, und tastete sich Fuß um Fuß vor. Als sie schließlich die Felsen erreichte, war sie bis zur Brust durchnäßt. Sie schob den Pflanzenvorhang beiseite und leuchtete in die freigewordene Öffnung. Die ersten Meter war der Boden des Ganges, der sich vor ihnen auftat, noch wasserbedeckt, weiter hinten hob er sich, wurde schmaler und verschwand in der Tiefe des Berges. Anna holte tief Luft und nahm ihren ganzen Mut zusammen.
"Komm Lil, laß uns losgehen, wenn ich noch lange hier stehe, trau ich mich nicht mehr!"
Sie hielt die Ranken beiseite, damit Lila hindurchfliegen konnte, und folgte ihr ins Ungewisse.
"Aah, ouh, meine Füße," jammerte Anna, "ich glaube, ich habe mich geschnitten, die Steine hier drinnen, unter dem Wasser, sind ganz spitz und scharf!"
Humpelnd überwand sie noch die letzten Meter des Ganges, die unter Wasser lagen, und erklomm dann eine trockene Stelle, wo sie als Erstes ihre Füße untersuchte.
"Zeig mal her, Anna!"
Lila besah sich das Malheur, doch ganz so arg, wie sie es schon befürchtet hatte, war es denn doch nicht; es gab zwar einige Kratzer und Schrammen sowie einen leicht blutenden Schnitt in der einen Fußwölbung, doch sehr tief war auch der nicht gegangen. Da zudem das Wasser glasklar und sauber war, war auch eine Entzündung nicht zu erwarten. Anna riß sich auch schnell wieder zusammen, drückte so gut es ging das Wasser aus ihrer Kleidung, wrang die Strümpfe aus und ließ das restliche Wasser aus den Schuhen laufen, die trotz der Vorsichtsmaßnahme, sie vorher unter den Pullover zu stecken, wegen der Tiefe des Teiches nicht verschont geblieben waren. Rasch streifte sie die klammen Strümpfe und Schuhe über, wobei sie wegen der Blessuren das Gesicht verzog, dann konnte es weitergehen.
Es schien sich nicht um einen künstlichen Gang, sondern um eine natürlich entstandene Höhle zu handeln, wie Lila aus dem unregelmäßigem Profil schloß. Zuerst ging es eine Weile relativ eben vorwärts, dann wand sich die Höhle steil nach unten.
"Da kann ich nicht hinunter", stellte Anna fest, "das geht nie und nimmer, das ist viel zu steil!"
Dem konnte Lila nur beipflichten, für Anna schien der Abstieg unmöglich.
"Ich wette, die Hexe benutzt einen anderen, weniger beschwerlichen Weg", vermutete Lila, "man sieht hier auch nirgends irgendwelche Anzeichen, daß hier schon mal jemand entlanggekommen ist. Leuchte mal ein bißchen 'rum, ich fliege ein Stück hinab und gucke von unten, ob es irgendwo eine Möglichkeit für dich gibt, hinabzukommen."
Sie schwirrte einige Meter hinunter und sah sich um; nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten - Annas Licht reichte nämlich nicht bis in die Winkel und Seitenschächte - entdeckte sie an der einen Seite in den Fels gehauene Stufen. Sie folgte diesen durch einen düsteren Schacht nach oben und kam ein Stück hinter Anna, in einer dunklen Nische, wieder auf den oberen Gang.
"Ich hab einen Weg gefunden," sagte sie, als sie wieder bei Anna war. Anna zuckte zusammen und ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen; sie hatte Lila noch unten in der Höhle vermutet und nicht bemerkt, daß sie von hinten herangekommen war. Gottlob hielt die Lampe dem Aufprall stand, sonst wären sie jetzt in Schwierigkeiten, denn die zweite Lampe sollte für den Rückweg sein und die Batterien nicht schon vorher verbraucht werden.
Anna folgte Lila zum Anfang der Treppe und tastete sich dann Stufe für Stufe hinab. Sie mußte sehr vorsichtig vorgehen, da die Stufen unregelmäßige Höhen aufwiesen, teilweise gebrochen oder schräg und zu allem Überfluß auch noch glitschig waren. Als sie tiefer kamen, wurde es noch schlimmer, hier führte die Treppe entsetzlich weit an einer senkrechten Wand hinunter Die Stufen waren nur etwa fünfzig Zentimeter breit, und ein Geländer, oder Griffe zum Festhalten gab es nicht. Anna schwindelte es bei dem Anblick, die ganze Höhle schien sich zu drehen, ihr wurde schlecht und schwarz vor Augen. Lila sah sie stolpern und wähnte sie bereits im Sturz, doch im letzten Augenblick fand Anna das Gleichgewicht wieder und lehnte sich an die Felswand. Wieder war die Taschenlampe zu Boden gefallen, und es gelang Lila nur unter Aufbietung ihrer gesamten Körperkraft, die Lampe am Rande der Treppe festzuhalten. Anna hatte sich niedergekauert und hockte nun mit dem Gesicht zur Wand und geschlossenen Augen da. Lila sah, daß die an den Fels geklammerten Hände heftig zitterten.
"Ich kann nicht mehr, ich falle", preßte Anna zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, "mir ist so schrecklich schwindelig!"
Oh nein, Annas Höhenangst! Lila erinnerte sich, daß das gleiche schon einmal passiert war, als sie von der Ruinenstadt in das Kartal hinab mußten; damals hatte Corinna Anna fast den kompletten Abstieg getragen und das, weil sie verletzt war, beinahe mit ihrem Leben bezahlt. Aber diesmal war niemand da, der Anna tragen konnte, außerdem bot die Treppe dafür auch zu wenig Platz.
Lila setzte sich neben Anna auf eine Stufe: "Geht es schon wieder besser? Ich hab' 'ne Idee: Du bindest die Taschenlampe an deiner Seite fest, so daß ich sehen kann, dann machst du die Augen zu und ich lotse dich die Treppe herunter. Wenn du nichts siehst, kann dir auch nicht schwindelig werden."
"Ich weiß nicht, mir ist ja schon schwindelig, wenn ich nur daran denke, außerdem sind meine Knie jetzt so weich wie Wackelpudding, ich glaube, ich kann nicht mal stehen."
"Dann rutsch doch im Sitzen Stufe um Stufe runter!"
"Hm, ich kann es ja mal probieren."
"Aber laß ja die Augen zu!"
"Ganz bestimmt! Die mach ich erst wieder auf, wenn du es sagst!"
Die Methode war zwar recht zeitaufwendig, aber nach den ersten Stufen, wo Anna noch sehr unsicher war, ging es einigermaßen voran. Trotzdem hatte Lila das Gefühl, überhaupt nicht vorwärtszukommen, da sich die Treppe schier endlos in den bodenlosen Abgrund zu erstrecken schien. Nachdem sie bereits über eine Stunde so unterwegs waren, fing Anna auch allmählich an, nervös zu werden.
"Ist die Treppe denn nicht bald mal zu Ende?" fragte sie kläglich, "mir ist so mulmig im Bauch!"
"Doch, Anna, wir sind bald unten", beruhigte Lila, doch in Gedanken war sie selbst der Verzweiflung nahe; was, wenn es noch Stunden dauerte, wie würde Anna reagieren, und wie sollten sie den Rückweg bloß bewältigen?
Gerade schob sich Anna unter ihr um einen Felsvorsprung. Lila folgte ihr und blickte nach vorn.
"Stop, Anna, mach mal 'ne kurze Pause!" sagte sie mit mühsam beherrschter Stimme, und ihr Herz schlug bis in den Hals hinauf: Drei Stufen weiter war die Treppe zu Ende! Aber nicht etwa, weil sie den Grund erreicht hatten, sondern einfach so! Es tat sich dort eine Lücke von gewiß acht oder neun Metern auf, wo es weder eine Treppe, noch einen anderen Weg gab. ......


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